Gustenfelden, ein Dorf das viele Geschichten erzählen kann.

Vorwort

Unser kleines Dorf, welches die Heimat für mich und den Hintergrund vieler meiner Geschichten darstellt, befindet sich nur 2 km neben der Kleinstadt Schwabach und ist ca. 15 km von der großen Stadt Nürnberg entfernt, mitten im Frankenland. Ein kleiner Bach mit dem Namen „Schwabach“ fließt und plätschert ganz gemächlich das relativ breite und nur leicht hügelige Tal entlang direkt unten am Dorf vorbei. Nur alle paar Jahre, wenn durch extrem hohe Niederschläge oder besonders starke Schneeschmelze eine Hochwasserlage entsteht, kann das behäbige Bächlein etwas aus den Fugen geraten und sich zum reißenden Fluss aufspielen. Aber normalerweise treibt der Bach tagtäglich und ganz beständig mit seinem Wasser das Mühlenrad der alten Mühle, die schon mehrmals renoviert wurde, drunten im Dorf an. Kommt man ganz unten vom Dorfeingang her über die Brücke ins Dorf hinein, befindet sich dort unser alter Springbrunnen mit stets sprudelndem Wasser und bildet so die Dorfmitte. In unmittelbarer Nähe, oberhalb vom Springbrunnen, befindet sich unsere alte Huf- bzw. Dorfschmiede. Hier zweigt ein Weg nach rechts ins hintere Dorf ab und führt anschließend an den Gemeindeweihern und unserer Trinkwasserquelle vorbei, die am Fuß eines großen  Waldhanges aus der lehmig-sandigen Erde quillt. So kommt man in die schönen mit Laubbäumen durchwachsenen, stattlichen Kiefernwälder und in die angrenzende Flur hinaus.

 

Biegt man aber am Dorfbrunnen nach links ab, so geht es am „Milchhäusla“ vorbei ins obere Dorf hinauf. Dort kommt man neben der Kirche mit dem Friedhof an den beiden Schulhäusern und dem alten Wirtshaus, das etwas unterhalb von der Kirche steht, an vielen Bauernhöfen vorbei und dann auch in die freie Flur hinaus. Von hier kann man das Schwabachtal mit seinen fruchtbaren Wiesen und Äckern sehr schön überblicken.

 

Gustenfelden war schon immer ein lebendiges Dorf mit zukunftsorientierter, kleinbäuerlicher Landwirtschaft, in dem sich seit meiner Kindheit jedes Jahr etwas verändert oder etwas Neues entwickelt hat. Wer macht sich heutzutage noch Gedanken über das Glück in Frieden und Freiheit in all den Jahren mit dem stetigen technischen und wirtschaftlichen Aufschwung leben zu dürfen, welcher gerade unserer Nachkriegsgeneration geschenkt wurde.

 

Aus der Sicht eines Bauernbuben, der als drittes Kind von vieren auf einem kleinen Bauernhof mit Tabakanbau als Schwerpunkt und Haupteinnahmequelle aufwächst, beginnt alles. Einige meiner Geschichten haben sich tatsächlich so ereignet und die Anderen ?? – die hätten sich durchaus so oder ähnlich abspielen können, sind aber frei erfunden. Ebenfalls sind viele Personen und Namen frei erfunden.

Geschichten von Manfred Winkler sen

Geschichten von Manfred Winkler sen

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Adventsgeschichten

Verschwundene Baumspitzen in der Adventszeit

An einem kalten Wintertag, es muss Anfang oder Mitte Dezember gewesen sein, unterbrach unsere Lehrerin, die Frau Klinsmann, plötzlich den Unterricht. Der Grund für die Unterbrechung war unser Altbürgermeister, der schon etliche Minuten vor der Klassenzimmertür wartete und zu uns ins Klassenzimmer herein wollte. Unsere Lehrerin bat den langjährigen Amtsvorgänger unseres Bürgermeisters freundlich zu uns herein und erteilte ihm nach einer kurzen Begrüßung das Wort.„Liebe Kinder, wie ihr vielleicht schon erfahren habt, wurden im Wald vom Mehl-Bauern acht Baumspitzen von den schönsten Randfichten, je 70 am lang abgeschnitten und gestohlen. Der etwa fünf-jährige, neu angepflanzte Wald befindet sich oberhalb der Quelle am Forstersweg angrenzend. Der Mehl-Bauer ist total verärgert und hat es beim Bürgermeister angezeigt, er ist ganz außer sich und hat Angst, dass ihm irgend jemand vom Dorf oder Nachbardorf einen Schabernak spielen möchte oder sogar auf eine solch schäbige Art und Weise Schaden zufügen will. Weil unser Bürgermeister in seiner Landwirtschaft so viel zu tun hat, gab er den Fall gleich an mich, eueren Altbürgermeister weiter. Meiner Meinung nach handelt es sich hier aber eher um einen Kinderstreich. Wir waren alle einmal Kinder und haben alle schon einmal Dummheiten gemacht. Meine Hoffnung und auch meine große Bitte ist nun, dass ihr Kinder vielleicht mehr darüber wisst und mir helft, dieses Missgeschick aufzuklären. Sollte es tatsächlich jemand von euch Kindern gewesen sein, so ist es ganz bestimmt das Beste, wenn sich derjenige in der nächsten Pause oder nach Schulschluss bei mir meldet. Denn bei einem freiwilligen Geständnis, so habe ich mit dem Mehl-Bauern, dem Bürgermeister und der Schule besprochen, werden wir von einer Strafe noch mal absehen. Uns wäre es ganz wichtig, diesen Fall aufklären zu können, damit kein Streit oder falsche Verdächtigungen im Dorf aufkommen.“

Mein Freund Martin und ich saßen ganz vorne in den ersten Bänken im Schulzimmer, so dass unsere Lehrerin und der Altbürgermeister bei ihren Ansprachen immer über unsere Köpfe hinweg ins Klassenzimmer schauten. Ansonsten hätten sie bestimmt bemerkt, wie wir beide mit knallroten Köpfen am liebsten im Erdboden versunken wären und dabei regungslos, wie eine verängstigte Maus auf den kleinen Schulstühlen fast unter der Bank verschwunden waren. 

Dass wegen diesen fünf kleinen Baumspitzen, die als weihnachtliche Dekoration für unser Geheimlager, das sich unter einem wilden Holunderstrauch in der Hecke am Melbersacker draußen befand, ein solch riesiger Aufwand mit Bürgermeistereinsatz entwickelt, der sogar in der Schule noch seine Ermittlungen betreibt, hätten wir uns nicht träumen lassen. Wir wollten doch nur unseren drei qm großen Aufenthaltsraum unter dem Holunderstrauch ausschmücken. Ohne ein Wort zu sagen, schaute mich Martin an, so als wollte er fragen, was machen wir jetzt. Ich zuckte nur mit den Schultern. Nach einer kurzen Weile sagte ich dann leise: „Das besprechen wir alles in der Pause.“

Unser Altbürgermeister war ein ganz ausgekochter, erfahrener, mit allen Wassern gewaschener alter Fuchs, den niemand so leicht etwas vormachen konnte. Das wusste ich damals schon aus Gesprächen zwischen meinem Vater und meinem Opa, die sich öfter über Gemeindepolitik unterhielten. Sogar unser amtierender Bürgermeister wusste die Fähigkeiten seines Vorgängers zu schätzen und schaltete ihn gerne bei kniffligen und schwierigen Aufgaben mit ein, was sich auch immer als ein guter Schachzug herausstellte. So hatte er erstens mehr Zeit für seine Arbeit in der Landwirtschaft und seinen erfahrenen Lehrmeister, der ja gerne solche Aufträge übernahm immer hinter sich auf seiner Seite. 

Als nach einer kurzen Unterrichtszeit, in der Martin und ich völlig teilnahmslos auf der Bank saßen, die Lehrerin endlich zur Pause aufrief, war uns beiden völlig klar, dass wir unsere Missetat eingestehen müssen, denn irgendwie kommt diese Schandtat doch ans Tageslicht. Deshalb waren wir uns schnell einig und gingen noch in der Pause zum „großen Manitu“. So nannten wir Kinder unter uns immer den Altbürgermeister. In der Zeit waren im Kino die Winnetou-Filme und im Fernsehen die Bonanza-Serien ganz aktuell. So nannten wir auch unseren Bürgermeister auch immer Sheriff oder Häuptling. Mit Wasser in den Augen und einem Frosch im Hals standen wir wie zwei begossene Pudel voller Respekt vor unserem großen Manitu. 

„Herr Bürgermeister, wir zwei waren es. Wir wollten nicht den Wald zerstören. Wir haben uns gar nichts dabei gedacht. Es tut uns leid, Herr Bürgermeister.“ So brachten wir schluchzend und stotternd unsere Entschuldigung vor. 

„Jetzt beruhigt euch schon wieder, das ist ja schließlich kein Beinbruch, wichtig ist, dass ihr mir Bescheid gegeben habt. Allerdings muss jeder von euch zu Hause ebenfalls alles beichten und dann müsst ihr euch noch beim Mehl-Bauern offiziell entschuldigen. Dann bräuchte ich von meiner Seite aus keine weiteren Schritte mehr einleiten und die ganze Angelegenheit wäre vom Tisch.“  So beruhigte und klärte er uns auf.
Schweren Herzens und schon fast etwas gebückt gingen Martin und ich als die letzten von allen Schülern an diesem Tag von der Schule nach Hause. „Was ist denn mit dir los, bist du krank oder hat es Probleme in der Schule gegeben?“ fragte mich Oma, als sie mich so niedergeschlagen heimkommen sah. Weinend und schluchzend erzählte ich ihr, was heute alles in der Schule abgelaufen war. „Da kann ich dir leider auch nicht helfen, das musst du schon selbst deinen Eltern berichten. Aber jetzt iss zunächst einmal etwas und hör zu weinen auf. Da habt ihr euch aber auch wirklich dumm angestellt, du und dein Martin,“ gab mir Oma zur Antwort. Da meine Mutter noch strenger und härter in der Erziehung war als mein Vater, offenbarte ich lieber Vati zuerst unsere Missetat.  „Das hätte ich nicht gedacht, dass du noch so dumm bist. Man muss sich ja regelrecht für dich schämen. Dafür müsste ich dir eigentlich gehörig den Hintern versohlen. Aber ich bin einfach nur enttäuscht, dass ausgerechnet du und Martin, ihr als Bauernkinder, so etwas fertig bringt.“ Ein paar kräftige Ohrfeigen oder Schläge aufs Hinterteil wären bestimmt leichter für mich zu verschmerzen gewesen, als diese vorwurfsvollen und niederschmetternden Worte von meinem Vater. Vor allem auch deshalb, weil mir nun schon seit einiger Zeit klar geworden war, dass ich mich mit diesem saudummen Fehler im ganzen Dorf blamiert habe. Am nächsten Tag schauten wir zwei sofort nach Schulschluss mit einem ganz mulmigen Gefühl beim Mehl-Bauern vorbei, um uns in aller Form zu entschuldigen. „Herr ähm Hilfs ähm Herr Mehl, wir beide möchten uns entschuldigen für die kaputten Baumspitzen. Es tut uns leid. Wir wollten sie nicht schädigen oder ärgern. Wenn sie uns gebrauchen können, dann sollen wir ihnen beim Unkrautausmähen im Wald oder beim Tabakanhängen im Sommer umsonst helfen, um vielleicht so den Schaden wieder gutmachen zu können. Unsere Eltern haben zu uns gesagt, dass wir ihnen so einen Vorschlag machen sollen.“ Beinahe wäre uns Herr Hilfssheriff anstatt Herr Mehl rausgerutscht, denn unter uns Kindern war der Spitzname für den langjährigen Gemeinderat, Bauernverbandsobmann und oft auch die rechte Hand vom Bürgermeister ganz einfach nur der Hilfssheriff.  „Ihr beide seid also diese international gesuchten Verbrecher, dann kommt am besten gleich mit mir ins Haus herein und ich zeige euch, wie man mit solchen Waldschändern umgeht.“  Im ersten Moment erschraken wir beide und schlichen sofort einen Schritt zurück, gingen aber dann mit ihm in die Küche, denn so gut kannten wir den Mehl-Bauern schon und wussten, dass er uns nichts Schlimmes antun würde. Als wir hinterm Küchentisch saßen, brachte uns Frau Mehl zuerst etwas Limo zum Trinken. „Nun eigentlich bin ich ganz froh, dass ihr euch gemeldet habt und sich alles aufgeklärt hat. Nur zu dumm, dass ihr ausgerechnet von der Randreihe abgeschnitten habt, wenn in der Mitte einige gefehlt hätten, wäre dies weiter gar nicht groß aufgefallen. Für was habt ihr die Spitzen eigentlich gebraucht?“ 
Vorsichtig stellten wir unsere angetrunkenen Limogläser wieder auf den Tisch und antworteten ganz leise: „Nur als Weihnachtsdekoration für unser Geheimlager.“ Herr Mehl war sichtlich erstaunt über unsere Antwort und überlegte, bevor er weiter redete: „Dann hattet ihr ja gar keine so schlechten Absichten bei euerer Übeltat. Ihr habt also ein Geheimlager, das ist ja interessant. So ein Lager hatten wir nämlich auch, als wir Kinder waren. Ich denke weil Weihnachten vor der Tür steht, vergessen wir am besten die ganze Angelegenheit einfach wieder. Im April oder Mai könnt ihr beide mir dann gerne ein paar Stunden beim Auskrauten im Wald helfen, denn es ist keine besonders schöne Arbeit, dieses Gestrüpp und Unkraut jahrelang nieder zu halten.“  Als Herr Mehl bemerkte, dass wir wie zwei reuige Schafe hinterm Küchentisch saßen, sagte er zu uns: „Richtet zu Hause viele Grüße von mir aus und sagt eueren Eltern, die Sache ist vergessen.“ Als zwei Wochen später am heiligen Abend Martin und ich ganz vorne beim leuchtenden Christbaum in der Kirche saßen, ging mir die ganze Geschichte vom Abschneiden der Fichtenspitzen bis zum Entschuldigen beim Mehl-Bauern noch mal durch den Kopf. In einem oder in zwei Jahren wären aus den von uns abgesägten Bäumchen vielleicht, nein bestimmt sogar, ein paar schöne Weihnachtsbäume geworden. Dabei wurde ich etwas nachdenklicher und dachte nicht, so wie die Jahre zuvor nur daran, welche Geschenke ich heuer von meinen Eltern und Großeltern zu Weihnachten bekomme. Zum ersten Mal schenkte ich dem Pfarrer bei der Predigt etwas mehr Aufmerksamkeit. In Bethlehem in einem Stall zwischen Kuh und Esel wurde das Jesuskind geboren. Unser Herr Jesus kam also auf einem Bauernhof zur Welt und wuchs bei ganz einfachen Leuten auf dem Land auf. Solche Streiche wie Baumspitzen abschneiden oder ähnliches hat er bestimmt nicht gemacht. Aber er war auch einmal ein Kind. Hoffentlich hatte er wenigstens eine schöne Kindheit. Die hatte er bestimmt. Das dachte ich so bei mir, während alle ganz feierlich Stille Nacht, heilige Nacht sangen, denn unser Herr Jesus hatte ja die beste Mutter, die man sich überhaupt vorstellen kann. Als der Gottesdienst zu Ende war, gingen Martin und ich mit glänzenden Augen aus der Kirche. „Schöne Weihnachten!“ sagte jeder zum anderen und wir gingen voller Hoffnung nach Hause.
             

Winterträume

Unser Bauernhof mit all seinen Gebäuden und unsere große Wiese, die so genannte „Bruckwiese“  befinden sich direkt neben einander und bilden so ein zusammenhängendes Grundstück. Auf einer Länge von 120 Metern an der Südseite entlang fließt unser Bach (die Schwabach) direkt am Grundstück vorbei. Genau in der Mitte verändert der Bach um ca. 45 Grad seine Flussrichtung. Deshalb ist unser Grundstück wie in einer Kurve nach außen gebogen. Junge, aber auch bis zu 100 Jahre alte Erlenbäume säumen beiderseits unseres Flüsschens schon von der Mühle her kommend bis zu uns und noch die gesamte Kurve entlang ganz natürlich und doch sehr eindrucksvoll den Wasserlauf. Zur Bachseite sind die Wurzelstöcke dieser Bäume, welche im Laufe mehrerer Jahrzehnte schon etliche Hochwasser-, aber auch schon niedrigste Wasserstände mehrmals erlebt hatten, vom Wasser sauber ausgespült worden. Aber auf der Wiesenseite sind sie so fest und tief im Boden verwurzelt und verankert, dass sie jeden Sturm und auch Hochwasser trotzten und standhielten. Hier muss sich das Wasser zwischen den beiderseitigen Baumreihen durchschlängeln. Sogar in der Kurve bestimmen die Erlen die Richtung des Wasserlaufes. Direkt in dieser Kurve, also genau in der Mitte der Biegung, wo der Bach am schmalsten ist, stehen die ältesten und kräftigsten Erlen. Ihre dicken, kräftigen Äste und Zweige überdachen teilweise den ganzen Bach im Flussbett.

 

Mein Freund Martin und ich hatten vor etwa eineinhalb Jahren genau an dieser Stelle die Superidee, den Bach mit einem Hängeseil von einem Ufer zum anderen zu überqueren. Leider waren meine Eltern absolut nicht begeistert von unserem Vorhaben und strikt dagegen. Außerdem fehlte uns auch ein geeignetes Seil, um unseren Plan verwirklichen zu können. Aber wie der Zufall manchmal mitspielt,  fanden Martin und ich eines Tages oben im Wald, wo im vergangenen Frühjahr amerikanische Soldaten eine Übung abgehalten haben, ein gut erhaltenes, dickes etwa 6 Meter langes Hanfseil. Zuversichtlich, meine Eltern mit diesem Seil doch noch umstimmen zu können, schleppten wir beide das Seil nach Hause. Tagelang bearbeiteten wir bei jeder günstigen Gelegenheit mit Bitten und Betteln meinen Vater, das Hängeseil festmachen zu dürfen. „Also gut! Das Seil ist stabil und dick, wir binden es zuerst einmal unten an einen Baumstamm fest und ziehen dann zu dritt mit aller Gewalt wie beim Seilziehen dagegen. Wenn dann nichts aufreißt oder ausfranzt, dann helfe ich euch beim Anbringen oben am Baum.“ So äußerte sich mein Vater zum ersten Mal positiv nach tagelangem Drängen von uns beiden.

 

An einem heißen Sommertag holte mein Vater die lange Leiter aus unserer Scheune, zog seine Kleidung bis auf die Unterhose aus, stellte die Leiter mitten im Bach auf und lehnte sie an einem äußerst dicken, relativ flach abstehenden Ast, der in ungefähr 4 Meter Höhe genau über die Schwabach ragte, an. Martin und ich zogen sich ebenfalls bis auf die Unterhosen aus und halfen das Seil, welches mein Vater etwa zu einem Drittel auf die Schultern genommen hatte, durch die Schwabach und dann meinem Vater folgend auf die Leiter nach oben zu transportieren. Vati wickelte das Seil zweimal um die seiner Meinung nach geeignete Stelle, verzurrte dann mit mehreren Knoten das dicke Seil. Sicherheitshalber band er zusätzlich noch mit einem kleinen Strick die dicken Knoten unseres Ami-Seiles fest zusammen, damit sich diese nicht lockern konnten. Bevor Vati die Leiter zurück brachte, hängte er sich etwa 1,5 Meter über dem Wasser der Schwabach an das Seil und sagte zu uns: „Hängt euch ebenfalls mit dran.“ Als wir alle drei am Seil hingen, zerrte und ruckte  mein Vater mit all seiner Kraft und Einsatz seines gesamten Körpergewichts am Seil. „Klettert wieder zurück auf die Leiter, der Ast und das Seil haben unseren Test überstanden,“ forderte Vati uns auf und stieg anschließend selbst die Leiter hinab ins Wasser. Mit einem oder zwei Meter Anlauf nahm Vati Schwung und schwebte als erster von unserem Ufer auf das gegenüber liegende Ufer hinüber. „Das Seil passt wirklich fast zentimetergenau, wir haben beim Festbinden perfekt die Mitte gefunden,“ stellte mein Vater mit Genugtuung fest, als er wieder auf unserer Seite zurück war. Bevor Vati uns das Seil übergab, teilte er uns mit ganz ernster Miene folgendes mit: „Es gibt ein paar Regeln, die eingehalten werden müssen, wenn nicht, ist das Seil sofort wieder weg. Als erstes: Nie bei Hochwasser benutzen, auch wenn ihr beide jetzt schwimmen könnt. Hier in der Kurve sind die Strömungen bei Hochwasser unberechenbar. Zweitens: Nur im Sommer, im Winter auf keinen Fall. Drittens: Bei Gewitter, Wind oder stürmischem Wetter darf das Seil ebenfalls nicht benutzt werden. Im Krieg, als Soldat habe ich schon viele Bäche und Flüsse überquert, ich konnte damals schon sehr gut schwimmen. Wasser kann immer gefährlich werden, egal ob hier in der seichten Schwabach oder in einem Weiher draußen. Meistens ist es Leichtsinn oder Sorglosigkeit, was die Gefahr hervorruft. Man braucht keine Angst vor dem Wasser zu haben, wenn man ihm mit gebührendem Respekt begegnet.“ Mit einem deutlichen Kopfnicken und einem leisen „Ja, in Ordnung Herr Winkler, gaben wir anerkennend Bescheid, dass wir alles verstanden haben, bevor Martin und dann ich am Seil hängend von einem Ufer zum anderen schwebten und auch wieder zurück. Der Weg zu unserem Geheimversteck in der wilden Holunderhecke am Melbenacker draußen war mit der Benutzung unseres Seilübergangs von ca. 800 Metern auf etwa 500 Meter reduziert worden, denn wir ersparten uns den Weg über die Brücke. Das Seil wurde nach jeder Benutzung entweder auf unserer Seite oder am gegenüber liegenden Ufer an einem Baum fest gebunden. So hing es nie über dem Bach und war immer einsatzfähig. In diesem Jahr ging unser Weg ganz häufig hier her. Wir fühlten uns wie Tarzan als König des Urwaldes, wenn wir mit dem Seil von einem Ufer zum anderen über das Wasser schwebten. Schließlich hatten wir dieses Seil gefunden und heran geschafft. Der Übergang war also unser Verdienst. Hier unter den Erlen floss das Wasser immer etwas schneller, als weiter unten oder oberhalb der Mühle im Mühlenbach und so war hier der Wasserstand den ganzen Sommer über relativ seicht. Das Bachwasser war damals, wenn es nicht gerade geregnet hatte, ganz sauber und klar, Forellen, Weißfische, manchmal auch Flusskarpfen fühlten sich hier im Schatten der Bäume besonders wohl. In den vom Wasser ausgespülten Wurzelstöcken der direkt am Bach wachsenden Bäume gab es richtige kleine Ausbuchtungen zwischen den Wurzeln unter Wasser, in denen sich ab und zu auch Forellen oder Flusskarpfen aufhielten oder versteckten. Als ich vor ca. 2 Jahren dies zum ersten Mal bemerkt hatte und mich das Jagdfieber oder besser das Fischerblut gepackt hatte, brachte ich zum ersten Mal einen Flusskarpfen, den ich nur mit meinen eigenen Händen gefangen hatte, in unsere Küche mit nach Hause, wo ich meine Mutter und Oma etwas überrascht, aber gar nicht begeistert über mein Jagdglück vorfand. „ Den kannst du gleich wieder in den Bach werfen, der ist nämlich gestohlen,“ schickte mich vorwurfsvoll meine Mutter wieder zurück. „ Den habe ich mit meinen eigenen Händen unter einem Baumstock erwischt und ihr wisst genau, wie gerne ich Fisch esse. Ich frage Opa, vielleicht will er den Fisch mit mir essen.“ Opa war schon immer ein leidenschaftlicher Fischesser. Mit meinem Karpfen im Eimer suchte ich also draußen nach Opa. „ Also gut, dieses eine Mal, aber nur dieses eine Mal backe ich dir und Opa diesen Karpfen, du brauchst nie wieder einen Fisch vom Bach bringen, denn deine Mutter hat schon recht, der Fisch ist gestohlen. Wir haben kein Fischrecht in der Schwabach. Das gibt nur Probleme.“ Damit machte mir Oma damals eine besondere Freude. Mit einem großen Messer schlachtete Opa meinen Karpfen und zeigte mir, wie so ein Fisch fachgerecht zerlegt und die Innereien ausgenommen werden. Seit dem kann ich vollkommen selbständig Karpfen und Forellen schlachten. Wahrscheinlich war genau dieser Karpfen der Beste in meinem ganzen Leben, den Opa und ich je zur Hälfte gemeinsam verspeisten. Bei der Heuernte jedes Jahr im Juni mähte mein Opa die leichte Böschung zum Flussbett hinunter immer mit der Sense. „ Hier wachsen die saftigsten und würzigsten Gräser der ganzen Wiese.“ So klärte mich Opa auf, als ich ihm mit einem Holzrechen half, das von ihm gemähte Ufergras auf die Wiese hinauf zu befördern, wo mit dem Traktor die ganze Arbeit wie Grasmähen, Heuwenden, Schwaden und Heimfahren erledigt werden konnte. Im Schatten der Bäume, wo das gleichmäßige Rauschen und Plätschern des Wassers zu hören war, spürte man besonders an heißen Sommertagen die wohltuende Kraft der Natur deutlich. Regnete es im Sommer mehrere Wochen nicht, so nutzen wir einen Teil vom Bachwasser zur Beregnung unserer Tabak-, Kartoffel- und  Rübenfelder. Beregnungsrohre verlegen und die Wasserpumpe mit dem Traktor aufstellen, das war keine so leichte Arbeit und mein Vater war froh, wenn wir Kinder ihm dabei halfen. Mit etwas Arbeit am Bauernhof und ein wenig Herumstreunen in Wald und Flur, wo auch der Bach dazu gehört, verging dieser Sommer und auch der Herbst sehr schnell. Die Schule war nicht das Allerwichtigste für uns Bauernkinder. An den letzten Novembertagen begann eine Regenzeit, die erst Mitte Dezember wieder aufhörte. Wie so oft gab es wieder keine weiße Weihnacht. Aber zwischen den Feiertagen, am 2. und 3. Januar wurde es richtig kalt. Mit mehr als 10 Grad minus in der Nacht, begannen die Weiher zu gefrieren. Die Schwabach war noch offen, denn bis fließende Gewässer zufrieren, bedarf es mindestens 15 bis 20 Grad minus.  An einem kalten Januartag beobachteten Martin und ich von unserer Bruckwiese aus, wie sich gegenüber auf der Staatsstraße ein Unfall ereignete. Auf der stellenweise glatten und etwas vereisten Fahrbahn war ein VW-Käfer wegen zu hoher Geschwindigkeit ins Schleudern geraten und durch den seichten Straßengraben 20 Meter in den Wiesengrund abgerutscht. Um nichts zu verpassen, eilten wir sofort mehr aus Neugierde wie aus Hilfsbereitschaft dem verunglückten Fahrzeug entgegen. „ Wir nehmen die Abkürzung mit dem Seil,“ sagte ich zu Martin. Als ich das um den Baum gebundene Seil holte, fest in beide Hände nahm und damit etwa 2 Meter Anlauf nahm, spürte ich irgendwie unbewusst, das Seil liegt heute steifer und kälter in den Händen. Aber mein Kopf und all meine Gedanken beschäftigten sich nur mit diesem Unfall auf der anderen Seite. So rannte ich los, klammerte mich fest an das Seil, um mit dem schon so oft geübten Schwung das andere Ufer zu erreichen. Erst jetzt, als ich mit aller Kraft das Seil fest hielt, spürte ich in den Händen die Kälte und die Glätte des wie zu einem Eiszapfen gefrorenen Seiles. Ich hatte keine Chance, der auch mit größter Anstrengung erzeugte Druck in den Händen, konnte das Abrutschen am Seil oder anders gesagt an diesem langen Eiszapfen nicht mehr verhindern. So platschte ich mit meiner kompletten Winterkleidung genau in der Mitte unseres Baches in das eiskalte Wasser. Durch die vergangene Regenzeit war der Wasserstand 30 bis 40 Zentimeter höher als normal. Nachdem ich einmal komplett untergetaucht war und genau in der Mitte unseres Flüsschens wieder zum Stehen kam, stand mir das schmutzige und eisige Wasser fast bis zu den Achselhöhlen. Ganz verdutzt und irgendwie auch geschockt, spürte ich von den Beinen ausgehend eine bedrohlich um sich greifende Kälte. Mit den Füßen uns Beinen stemmte ich mich gegen die Strömung. Mit den Händen und Armen ruderte ich dem Ufer entgegen, wo Martin fast genau so verdutzt dastand und nach mir schaute. Mit ganz kleinen Schritten und die Beine ein Stück weit auseinander, so dass an beiden Beinen das Wasser vorbei strömen konnte, versuchte ich das Ufer unserer Bruckwiese zu erreichen. Obwohl am Ufer das Wasser nicht mehr so tief war und ich nur noch etwa bis zur Gürtellinie im Bach stand, gelang es mir nicht, die gefrorene Böschung vom Wasser heraus hochzuklettern. Alle Gräser und Böschungspflanzen waren gefroren und vereist und konnten mir deshalb keinen festen Halt geben. Als ich schon ganz verzweifelt immer wieder an einer anderen Stelle versuchte aus dem Wasser zu gelangen, hörte ich Martin wie er mir zurief: „Warte, warte ich habe hinter euerem Hühnerstall eine alte Schaufel gefunden, an der kannst du dich vielleicht heraus ziehen, wenn ich sie von oben her fest halte.“ Zuerst schnaufte ich ein paar Mal kräftig durch, dass Martin noch hier war und nicht die Nerven verloren hatte, machte mich etwas mutiger und zuversichtlicher, denn lange hätte ich in dem eisigen Wasser nicht mehr ausgehalten. Martin hielt mit aller Kraft den Schaufelstiel fest und stemmte sich mit seiner ganzen Gewalt entgegen. So konnte ich mich von unten an der Schaufel haltend an dem Stiel entlang nach oben am Böschungsufer vorbei aus dem Wasser ziehen.

 

„ Du bist käsweiß“ sagte Martin zu mir als ich oben auf der Wiese neben ihm stand. Mit bibbernder Stimme antwortete ich: „Das ist auch ein Wunder, das Wasser ist eiskalt, meine Beine sind fast schon steif.“ Martin stützte mich und half mir nach Hause zu kommen. Dabei wurde auch er noch nass. Langsam wurden die Ärmel meines Kittels immer steifer bei diesen frostigen Temperaturen. Als wir endlich oben an der hinteren Haustüre vor unserem Haus standen, waren meine Schuhpendel vollständig gefroren. Als ich die Haustüre öffnete und Oma uns beide sah, war sie zum ersten Mal seit dem ich sie kannte, sprachlos. „In die Küche  mit euch“ zeigte Oma uns an und ging an uns vorbei und schrie sofort nach meinen Eltern. Die kamen sofort angerannt, denn am Ton und der Lautstärke hörte man deutlich eine Art Hilferuf heraus. In der Küche zogen mich meine Eltern gemeinsam so schnell es nur ging vollkommen nackt aus. „Vielleicht sollten wir doch unseren Doktor verständigen, der Manfred ist ja völlig geschockt, hoffentlich hat er keine Erfrierungen an Bein oder Füßen“ stellte Oma besorgt um mich fest. Mein Vater forderte mich auf, ein Stück weit herum zu laufen und betastete meine Zehen und Füße. „Da brauchen wir keinen Arzt, lass besser die Badewanne mit kaltem Wasser einlaufen, so schlimm ist das nicht, da habe ich in Russland schon ganz andere Sachen gesehen und erlebt. Oma ging sofort ins Badezimmer und ließ Wasser einlaufen. „Kein kaltes Wasser mehr“ sagte ich ganz leise mit ängstlicher Stimme. Mein Vater wusste aus seiner russischen Kriegs- und Gefangenschaftszeit, wie man mit Unterkühlungen umgeht und stellte mich in die Badewanne. Zu meiner Überraschung, fühlte sich das nicht beheizte kalte Wasser fast ein wenig warm an. Sofort begann meine Mutter mit Shampoo und Seife mich von Kopf bis Fuß mit diesem lauwarmen Wasser zu säubern. Oma schürte mit klein gehacktem Holz den Badeofen an. „Vielleicht brauchen wir später doch noch warmes Wasser“ stellte sie mehr fragend als bestimmend fest. Meine nassen Klamotten verbreiteten in der warmen Küche einen nach Schlamm und Fisch riechenden Gestank. Bis ich wieder in die Küche zurück kam und dort vollkommen neu eingekleidet wurde, hatte aber Oma schon alles aufgeräumt. Martin hatte sich noch bevor ich ganz ausgezogen war leise davon geschlichen. Mein Vater hatte an seiner nassen Kleidung bemerkt, dass er mir geholfen hat und ihn vermutlich deshalb auf die Schultern geklopft. „Dieses verdammte Seil, ich war von Anfang an dagegen.“ Mein Vater zuckte etwas zusammen, er wusste nicht, was er meiner Mutter darauf antworten sollte, bis er endlich „Ja, du hast recht“ heraus brachte. Oma war erleichtert, als sie bemerkte, dass es mir wieder besser ging, was sie sich aber auf keinen Fall anmerken lassen wollte.

 

„Du gehst sofort ins Bett, du musst dich wieder vollständig erwärmen, mit so einer Unterkühlung ist nicht zu spaßen. Alles andere klären wir morgen früh.“ Anscheinend machte sich mein Vater selbst irgendwie Vorwürfe mit dieser Hängeseilanbringung am Bach, denn sonst hätte er mich ganz anders geschimpft und womöglich auch bestraft. Oma richtete mein Bett her, deckte mich ordentlich zu, setzte sich mit einem Stuhl unten zu meinen Füßen hin und rieb und rubbelte meine Füße und Beine so lange, bis sich diese wieder schön warm anfühlten. Als mir nach einer Weile Oma eine Tasse heiße Husten- und Erkältungstee ans Bett brachte, dämmerte es draußen schon. „Den trinkst du jetzt ganz langsam, immer nur schluckweise und dann versuchst du zu schlafen. Ich bin mir nicht sicher, ob du ein wenig fieberst.“ Der heiße Tee wärmte von innen, das kuschelig warme Bett war jetzt genau das Richtige. So fiel ich mit Anbruch der Dunkelheit in einen tiefen und festen Schlaf.  Nur mit einer kurzen Hose bekleidet, es war mitten im Sommer, stand ich in einem der drei Abflussbecken, welche sich neben der Mühle befanden. Die Schleuse oben am Mühlenbach war geschlossen und das ganze Wasser vom Bach musste, wie fast immer, durch die Mühle. Der Höhenunterschied zwischen dem einlaufenden Wasser und dem aus der Mühle abfließenden Wasser, beträgt fast vier Meter. Das hier herabstürzende Wasser hält, wenn es sein muss, bei Tag und Nacht die Mühlenräder in Bewegung. Treten Probleme in der Mühle oder an den Wasserturbinen im Mühlenkeller auf, dann kann der Müller per Hand die Schleusen oben am Mühlenbach öffnen und das Wasser rauscht über die drei Stufen und den drei Abflussbecken außerhalb neben der Mühle diese fast vier Meter Höhenunterschied zum unteren Bach hinunter.

 

Im letzten der drei Abflussbecken, in dem ich stand, war das Wasser nur etwa einen halben Meter tief. Eine wunderschöne große Forelle stand in der Ecke von diesem 1,5 x 3,0 Meter langen Becken. „Hier habt ihr Kinder nichts verloren, ich will keinen mehr von euch hier an den Wasserbecken sehen, falls doch, dann gilt „wer nicht hören will, muss fühlen.“ So drohte Martin und mir der Müllermeister vor mehr als einem Jahr mit einem dicken Haselnussstock in der Hand, als wir hier mit einem Fischhammer fischten. Aber dieser außergewöhnlich großen Forelle in dem kleinen und seichten Wasserbecken konnte ich unmöglich widerstehen. Der Reiz und die Lust, einen solch besonderen Fisch in den Händen zu halten, waren viel größer als meine Bedenken und Angst vor dem Müller. Doch der Fisch war putzmunter in dem klaren und sauberen Wasser und dachte im Traum nicht daran in meiner Bratpfanne als Leckerbissen zu landen. Erst als nach längerem Hin- und Herwühlen das Wasser im Becken trüb und schmutzig wurde, konnte die Forelle nicht mehr so geschickt und flink agieren und ich bekam endlich meine Chance.

 

Nun bemerkte ich, wie sich auf einmal das Wetter verändert hatte. Die Sonne war hinter dicken, dunklen Gewitterwolken verschwunden. Ca. einen oder zwei Kilometer westlich, also wo der Mühlenbach herkommt, war der Horizont vor lauter Wolken und Starkregen nicht mehr zu sehen. Einmal noch das Becken mit beiden Händen durch kämmen, bevor es auch hier regnet und womöglich der Bach mit Regenwasser zu schnell anschwillt, dachte ich bei mir und spürte wieder die große Forelle. Genau in diesem Moment, wo ich mit geübtem Griff den Fisch fest in beiden Händen hielt und dem sein heftiges Zappeln und Sträuben langsam immer schwächer wurde und er sich gefangen gab, schwappte ganz oben das Wasser vom Mühlenbach über die dicken Bretter der Schleuse ins erste obere Sammelbecken. Sekunden später plätscherte es schon ins zweite Mittelbecken und kurze Zeit später strömte das Wasser zu mir herunter ins unterste Becken. Vor lauter Schrecken ließ ich meine Superforelle sofort ins Wasser fallen, denn ich bemerkte, wie sich langsam die Schleuse öffnete. Vom Müllermeister war weit und breit nichts zu sehen, es kann doch nicht sein, dass sich die Schleuse von selbst öffnet. So blickte ich ängstlich nach oben. Die drei Stufen, welche von Sammelbecken zu Sammelbecken jeweils einen Meter Höhenunterschied aufwiesen, verschwanden schnell hinter den neu entstandenen Wasserfällen. Für mich gab es kein Entkommen mehr, die Strömung nahm alles mit, was sich ihr in den Weg stellte und ich schwamm so gut es ging mit ihr den Bach hinunter. Vom Altbach, vom Flutgraben und von der Dorfstraße, von überall strömte Wasser herbei. Der vor kurzem eingesetzte Regen steigerte sich zu einem Wolkenbruch, so gab es von allen Seiten nur noch Wasser um mich herum. Vollkommen hilflos und schwach versuchte ich mich über Wasser zu halten. Aber unten an den alten dicken Erlen, wo der Bach in der Kurve seine Richtung ändert, hatte sich im Wasser ein Wirbel gebildet. Zuerst planschte ich an dieser Stelle einmal im Kreis mit herum. Dann spürte ich, wie sich alles um mich herum drehte, so als ob ich in einer riesigen Badewanne in den Wirbel des Ablaufs geraten wäre, verschwand ich nach unten im Wasser. Sofort hatte ich die Orientierung verloren und wusste auch nicht mehr, wo oben oder unten ist. Schwach und absolut machtlos hatte ich einer solchen Naturgewalt nichts entgegen zu setzen und wusste, jetzt bin ich verloren. Völlig orientierungslos nahm mich die Strömung unter Wasser ein Stück weit flussabwärts mit, bis ich erneut von einem weiteren Strudel ergriffen wurde. Wieder drehte sich alles um mich herum, aber dieses Mal hatte ich das Gefühl, mich schleudert es nach oben. So, als ob mich der Bach ausgespuckt hätte, lag ich zu meiner eigenen Überraschung  auf einmal oben am Ufer auf unserer Bruckwiese, hustete das verschluckte Wasser heraus und schnappte nach Luft. Ein wenig erleichtert sah ich mich überall um. Aus dem behäbigen, ruhigen Bächlein hatte sich in kürzester Zeit ein reißender Fluss entwickelt, der immer weiter anschwoll und wenn es so weiter geht, dann wird es nicht mehr lange dauern, bis er auch den Wiesengrund überschwemmt hat. Auf einmal wurde mir klar, nichts wie weg von hier und zurück in unser Haus, ich muss mich in Sicherheit bringen. Schon beim ersten Versuch wurde mir bewusst, meine beiden Beine sind lahm und nicht mehr zu gebrauchen. In drei oder vier Meter Entfernung, abseits vom Fluss, sah ich einen kleinen Heuhaufen. Nur mit den Armen und Händen angetrieben, robbte ich dieser leichten Erhöhung entgegen und schaffte es auch hinauf. Von hier aus konnte ich alles überblicken, den ganzen Wiesengrund, den mit Erlen gesäumten Flusslauf, den Mühlenbach von oben und den Flutgraben von der Seite kommend. Es hörte einfach nicht zu regnen auf, der ganze Wiesengrund wurde mit schmutzigem Wasser überflutet. Schon bald fühlte ich mich auf meinem Heuhaufen gar nicht mehr wohl und auf keinen Fall sicher. Langsam, aber unaufhaltsam, breitete sich die Flut immer weiter im Wiesengrund aus. Auch der Heuhaufen, auf dem ich lag, wurde vom Wasser eingeschlossen, bis nur noch die oberste Schicht auf der ich lag, heraus schaute. Der ganze Wiesengrund war ein großer See. Als ich längere Zeit auf diesen neu entstandenen See starrte, erkannte ich plötzlich relativ deutlich, wie genau dort, wo sich das eigentliche Flussbett befindet, also zwischen den Erlenzeilen, dann der Kurve entlang und auch weiter so wie der Bach normalerweise verläuft, den alten ursprünglichen Bach, der hier schon seit Jahrhunderten oder sogar seit Jahrtausenden seine Heimat hat. Mit ganz sauberem, klarem Wasser, glänzte er aus dem dreckigen Seewasser heraus. Mit diesem kristallklaren Wasser wirkte der Bach freundlich und lebendig. Dann schlug er ein paar größere Wellen, daraus entstand irgendwie ein Gesicht mit Augen, Nase, Mund und weißen Haaren. Genau diese Augen schauten zu mir herüber und eine kräftige Stimme erklang: „Du brauchst keine Angst zu haben, du musst nur laut und deutlich zu mir sagen, ich habe Respekt vor dir und dem vielen Wasser, dann wird alles gut.“ Natürlich hätte ich sofort darauf geantwortet, aber ich brachte keinen einzigen Ton heraus. Alle Körperteile und dazu gehörten auch mein Mund und meine Stimme, waren gelähmt und zu nichts mehr zu gebrauchen, nur mein Verstand funktionierte noch. Mit all meiner Kraft und Energie, die noch in mir steckte, versuchte ich diesen einzigen Satz heraus zu bringen. Dann endlich, so als ob eine dicke Eisdecke durchbrochen wäre, platzte es laut und deutlich aus mir heraus. „Ich habe Respekt vor dir und dem vielen Wasser.“ Zur Sicherheit wiederholte ich diesen Satz noch zweimal.  „Es ist schon gut, alles wird gut, beruhige dich, Manfred.“ Dann spürte ich eine Hand auf meiner Stirn. Zu meiner Überraschung lag ich nicht draußen auf dem kleinen Heuhaufen, sondern daheim in meinem Bett. Dann hörte ich, wie meine Mutter zu allen, die um mein Bett herum standen sagte: „ Der Manfred hat bestimmt Fieber, sein Bett ist auch ganz nass geschwitzt.“ Dabei nahm sie ihre Hand von meiner Stirn. Ganz langsam wurde mir bewusst, ich habe alles nur geträumt und mit meiner lauten Antwort an unserem Bach das ganze Haus aufgeweckt, denn auch mein Vater und sogar mein großer Bruder standen am Bett. „Alles wird gut, Manfred, du hast nur schlecht geträumt,“ sagte Oma zu mir und vergewisserte sich mit ihrer Hand auf meiner Stirn, ob ich tatsächlich Fieber habe. Meine Mutter wechselte das nasse Bettzeug. Oma holte im Keller ein Glas voll von den im Sommer eingeweckten Süßkirschen und gab mir nur den Saft davon in einer großen Tasse zum Trinken. Dabei sagte sie zu mir: „Der wirkt fiebersenkend und besser wie jede Medizin.“ Skeptisch probierte ich davon und war angenehm überrascht, wie gut er schmeckte. Als ich ausgetrunken hatte, meinte Oma zu mir: „Du musst noch einmal beten, Manfred und beim Einschlafen denkst du an eine schöne Blumenwiese am Waldrand mit schneeweißen Schafen drauf und wenn du alle Schafe gezählt hast, wird morgen früh alles wieder in Ordnung sein.“ Nach zwei oder drei Tagen stellte mein Vater unsere große Aluleiter an der Erle auf, an der das Seil befestigt war. „Du kannst unten die Leiter festhalten, damit sie nicht wegrutscht,“ erklärte mir Vati bevor er mit der Motorsäge den starken Ast mit samt dem angehängten Seil absägte. Ein paar Meter flussabwärts zogen wir mit einer langen Stange die mit einem Haken versehen war, den Ast und das Seil vom Bach auf unsere Wiese heraus. Als wir gemeinsam den Ast zu Brennholz zersägten und das Amiseil zusammenlegten, bemerkte mein Vater meine traurige Stimmung und sagte ganz nebenbei zu mir: „Das Seil muss nicht unbedingt wegen dir oder Martin weg. Die Gefahr, dass andere Kinder vom Dorf ebenfalls das Seil benutzen und dabei irgendwie ins Wasser fallen oder verunglücken, ist viel zu groß. Das wurde mir bei euerem Unfall letzte Woche erst richtig bewusst.“  Dieser Traum hatte mir klar gemacht, dass das Wasser oder die Natur viel stärker sind, als wir Menschen.

Ein Traumhafter Schneemann

Die ganze Nacht hatte es geschneit. Riesengroße Schneeflocken fielen schnell und fast senkrecht pausenlos zu Boden. Es war nicht besonders kalt und der Schnee deckte alles unter sich mit einer nassen und pappigen weißen Decke zu. So entstanden die idealen Bedingungen zum Schneemann bauen. Mit voller Begeisterung rollten Martin und ich große Strohballen ähnliche Rundballen aus Schnee hinter unserem Haus auf der angrenzenden Wiese zusammen. Dann halfen uns sogar noch mein Bruder und auch mein Vater diese schweren Ballen vor unser Haus zu rollen, wo wir gemeinsam den größten und dicksten Schneemann seit ewigen Zeiten zusammen bastelten. Zu viert schleppten wir gemeinsam einen schweren runden Schneeball, welcher der Kopf unseres Schneemanns wurde, auf zwei Staffeleien nach oben und setzten ihn auf den Rumpf. Ein alter schwarzer Eimer, der wie ein Zylinderhut am Kopf aussah, ließ keinen Zweifel mehr aufkommen, dass es sich hier um einen etwas besseren alten Herrn handelt. Verschiedene rote Beete dienten je nach Größe als Augen, Mund und auch als Mandelknöpfe. Die größte und dickste Karotte zierte als Nase das Gesicht. Der gut beleibte, zweieinhalb Meter große Schneemann stand selbstbewusst, sogar ein klein wenig majestätisch vor unserem Haus. Dementsprechend stolz, aber auch mit etwas Respekt, standen wir vor unserem Kunstwerk.

 

Als ich am nächsten Morgen zur Schule musste, grüßte ich unseren Schneemann freundlich und wünschte ihm einen schönen Tag. Aber bereits am Nachmittag, als ich wieder nach Hause kam, war durch die wärmende Sonne unser Riese vor dem Haus so ins Schwitzen gekommen, dass ihm von Kopf bis Fuß die Wassertropfen herunter liefen. Noch am selben Abend hing seine große Nase ganz niedergeschlagen nach unten im Gesicht. Außerdem hatte er nur noch ein Auge und einige Knöpfe fehlten ebenfalls. Aus dem vornehmen stattlichen Schneemann war eine armselige, traurige Figur geworden, mit der man eigentlich nur noch etwas Mitleid haben konnte.

 

„Du armer Tropf, du tust mir leid, du lebst ja nur noch kurze Zeit,“ sagte ich ganz leise, sodass es niemand hören konnte, als es schon dämmerte zu unserer dahin schmelzenden Gestalt. In dieser Nacht blieb es ganz mild, schon fast warm und man hörte bis ins Schlafzimmer hinein, wie das schmelzende Schneewasser vom Hausdach ruhig und gleichmäßig herab tröpfelte. Ein beruhigendes Geräusch, bei dem ich in einen tiefen und festen Schlaf versank.

 

Plötzlich und vollkommen unerwartet, stand auf einmal unser riesiger Schneemann vor meinem Bett im Schlafzimmer. Ganz ruhig und stumm, nur mit einem Lächeln im Gesicht, füllte der weißhaarige, ältere Herr mit Zylinderhut das ganze Zimmer aus, sodass kein Schrank und auch kein Schreibtisch mehr zu sehen war. Weil er so freundlich lächelte, war ich gar nicht erschrocken. Von irgendwo her kenne ich dieses Gesicht, dachte ich bei mir und schaute ihn längere Zeit ungläubig an.

 

„Du armer Tropf, du tust mir leid, so etwas sagt man nicht zu einem älteren Herrn, deshalb bin ich hier.“ Sofort hatte ich diese Stimme wieder erkannt, es war die vom kristallklaren Bachwasser, natürlich auch das Gesicht mit den weißen Haaren erkannte ich nun wieder. „Bevor du dich lustig über mich machst und keinerlei Achtung vor  mir zeigst, solltest du lieber einmal deinen Verstand benutzen und dir Gedanken darüber machen, wer von uns beiden der Klügere, Stärkere und Wichtigere ist.“ Dabei schaute er mich sehr ernst und eindringlich an.

 

„Entschuldige, ich hatte dich draußen im Hof nicht erkannt und keine Ahnung, dass du lebst, ich sehe dich ja heute erst zum zweiten Mal,“ antwortete ich ganz leise und bescheiden. „Wenn du manchmal besser aufgepasst hättest, dann wäre ich dir schon einige Male am Himmel in den Wolken aufgefallen.“ Jetzt, wo er vor mir stand und mir das sagte, konnte ich mich erinnern, wie ich schon einige Male so ein Gesicht, aus lauter Wolken geformt, gesehen hatte. „Entschuldige, aber wer bist du eigentlich genau, wenn ich das einmal so direkt fragen darf?“ Der ältere Herr runzelte zunächst einmal seine Stirn, bevor er antwortete. „Diese Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten, denn ihr Menschen versteht ja nur das, was ihr seht oder bestenfalls noch was ihr mit eueren Sinnen wahrnehmen könnt. Gesehen hast du mich ja schon in meinen drei verschiedenen Formen, denn ich kann mich sowohl mit ganz normalem Wasser kleiden, aber auch als Eis- oder Schneemann zu erkennen geben und als Wasserdampf um die ganze Erde schweben. Eine weitere Form oder Kleidung, welche ich noch annehmen kann, ist für euch Menschen nicht sichtbar und deshalb auch nicht zu verstehen. Mit meiner unbändigen Sprengkraft, die ich bei meiner Verwandlung vom Wasser zu Eis besitze, habe ich im Laufe mehrer Millionen Jahre schon ganze Gebirgszüge eingeebnet und zu fruchtbaren Böden gemacht. Dass ich bei meiner Umwandlung von Wasser in Dampf ebenfalls sehr viel Kraft besitze, das haben die Menschen auch schon begriffen und nutzen gerne meine Dampfkraft. Ich war schon überall auf der Welt, auf den höchsten Bergen, am tiefsten Meeresboden, habe über Jahrtausende und manchmal sogar über Jahrmillionen in riesigen Gletschern oder Eisbergen gewohnt. Sämtliche Lebewesen, sowohl Pflanzen als auch alle Tiere auf dieser Erde, könnten ohne mich nicht existieren. Trotz allem bin ich immer ganz bescheiden geblieben und weiß genau, dass ich nur ein Teil der großen Schöpfung bin.“

 

„Entschuldige bitte meine Dummheit, ich hatte ja keine Ahnung, dass du so eine Macht besitzt und schon so alt bist.“ „Nein, nein, ich bin doch nicht alt und werde auch nie älter, ich bleibe immer ganz jung, wie am ersten Tag, wie neugeboren, auch wenn es mich schon viele Millionen und Abermillionen Jahre gibt. Die Zeit spielt bei mir keine Rolle. Außerdem besitze ich nicht die Macht, sondern habe nur die Kraft, um alles zu bewegen, zu verändern, aber auch wieder um zu reinigen und zu ordnen. Im Gegensatz zu vielen Menschen, weiß ich genau, wer die Macht über alles besitzt.“

 

Während er mir das alles erzählte, blieb der alte Schneemann immer freundlich vor mir im Zimmer stehen. Ein schneeweißer Nebel breitete sich ganz langsam über dem Fußboden im ganzen Zimmer aus. Als ich mich umschaute, lag ich wie auf Wolken gebettet in meinem Bett und konnte wie ein Vogel, der hoch am Himmel zwischen den Wolken fliegt, auf die Erde herunter schauen. In dieser Nacht sah ich wunderschöne, hohe Berge, welche ganz oben noch mit Schnee bedeckt waren, während unten in den herrlich grünen Tälern alles blühte. Sauberes, kristallklares Quellwasser sprudelte aus vielen Seitentälern zu einem Bach zusammen, der plätscherte in einen Fluss und aus mehreren Flüssen entstand ein riesiger Strom, der in das nicht überschaubare Meer mündete. Als wir das große Meer überquert hatten, sah ich eine nur mit Sand und Steinen bedeckte Landschaft unter mir. Keine Flüsse, keine Bäche, fast keine Pflanzen und auch keine weiteren Lebewesen, wie Tiere oder Menschen waren hier in der vom Wasser fast verlassenen Gegend zu sehen. Plötzlich blieb alles vor mir stehen und eine kleine winzige Wolke deutete auf einen kleinen, ganz üppig grünen Fleck. Dies musste eine Oase mitten in der riesigen Wüste sein. Alle Menschen, alle Tiere, alle Pflanzen und auch der kleine See hier, lebten von einer einzigen großen Quelle. Mit der allergrößten Hochachtung vor dieser Quelle lebten die Menschen glücklich und zufrieden, ausschließlich von dem, was das Quellwasser alles hervorbrachte. Eine Stimme aus den Wolken, die ich nun sofort erkannte, sagte zu mir: „Dies ist der Ort, an dem das Wasser am allerhöchsten auf der ganzen Welt geachtet und geschätzt wird.“ Ganz leise und bescheiden antwortete ich darauf: „Ja, danke für alle Erklärungen, jetzt habe auch ich begriffen, wie wichtig du für alles auf der Welt bist.“

 

Eine mir ganz vertraute weibliche Stimme, es war meine Oma, rief aus weiter Ferne mehrere Male meinen Namen, bis sie immer näher kam und ich laut und deutlich hörte: „Manfred, Manfred aufstehen, oder willst du heute nicht zur Schule?“ Ganz benommen und noch nicht richtig in der Realität angekommen, schaute ich Oma mit großen Augen an. „ Da brauchst du nicht, wie aus allen Wolken gefallen zu schauen, es ist schon spät und es ist allerhöchste Zeit endlich aufzustehen, wenn du rechtzeitig in die Schule kommen willst. Und wasch dir den Schlaf aus dem Gesicht.“

 

Unser Schneemann war über Nacht noch mal ein ganzes Stück weit geschmolzen und zum ersten Mal in diesem Jahr war der sich nahende Frühling zu spüren. „Ade mein guter Freund und leb wohl, wo immer es dich auch hinzieht auf dieser Welt,“ sagte ich beim Vorbeigehen zu ihm, ohne dabei ein Wort auszusprechen, nur mit meinen Gedanken.

 

Auch nach vielen Jahren waren diese Träume in meinen Gedanken noch nicht verschwunden. So ging manchmal mein Blick vollkommen unbewusst zum blauen Himmel nach oben, wo bei sonnigem aufgelockertem Wetter schön geformte, weißgraue Wolkenformationen vorüber zogen.

Opas Erzählungen

Es waren nur noch wenige Tage bis zum Weihnachtsfest. Meine Hausaufgaben für den nächsten Schultag hatte ich sofort nach dem Mittagessen erledigt, weil ich ja wusste, dass Opa draußen im Kuhstall mit der Herstellung von den großen Weidenkörben wieder begonnen hatte und dieses Mal wollte ich von Anfang an, also vom Bodenteil und Grundgerüst bis zur Fertigstellung alles genau verfolgen. Vorne, gleich hinter der Stalltüre, dort wo während der Melkzeit immer die Milchkannen standen und die Milch aus der Melkmaschine ganz langsam durch den großen Filtertrichter in die Kannen sickerte, hatte sich Opa tagsüber mit seinen Weiden breit gemacht, denn gemolken wurde ja nur früh und abends. Er freute sich, als er mich sah und dass sich jemand für seine Arbeit interessiert. „Hol dir den Melkschemel da hinten und setz dich her zu mir“ forderte Opa mich auf, es klang wie eine Einladung. Ganz hinten in der Ecke stand ein grosser Pack mit langen, gleichmäßigen Weiden. Opa saß auf einem alten Stuhl und schnitzte kunstvoll aus frisch geschnittenen Haselnussruten das Grundgerüst, was einmal ein großer Heukorb werden sollte. Im Kuhstall war es warm, man kann gar nicht glauben, dass die Tiere nur mit ihrer Körperwärme den ganzen Stall so temperieren können, denn eine Heizung gab es nicht im Stall. So saß ich breitbeinig, den Kopf in beide Hände gestützt längere Zeit, ohne ein Wort zu sagen und beobachtete Opas kunstvolles Schaffen. Alle Weidenkörbe oder Heukörbe und auch sämtliche kleineren Kartoffelkörbe oder Wannen wurden alle eigenhändig von meinem Opa in den Wintermonaten geflochten und gebunden. Manchmal saß ich stundenlang neben Opa im Kuhstall und verfolgte, wie er mit Weiden und für besondere Zwecke wie Griffe oder Bodenteile auch Haselnussruten verwendete. Mit einer wahnsinnigen Geduld, so wie ich mir das nur von meinem Opa vorstellen konnte, arbeitete er tagelang an den Weidenkörben. Ohne einem Plan zu folgen, fertigte er von den Bodenteilen angefangen bis hin zu den Wänden, nur mit einem speziell etwas gebogenen Messer und mit einem Metermaß ausgestattet, sämtliche Körbe und Wannen einfach frei nach Schnauze an. Das Erstaunliche dabei war, dass sich sämtliche Heukörbe oder auch Kartoffelkörbe genau zum Verwechseln ähnlich sahen. „Die Weiden sind besonders lang und biegsam, das sind nämlich spezielle Weidenstöcke, welche bei uns unten am Bachrand auf der Wiese wachsen,“ erklärte mir Opa ganz nebenbei. „Warum sollen das besondere Weiden sein, Opa?“ Das sind doch ganz normale Weiden, dachte ich bei mir. Jetzt war wieder so ein Moment, wo Opa zu einem längeren Gespräch ausholte. Das merkten wir Kinder genau daran, wie er seine Tabakspfeife in die Hand nahm und fein säuberlich ausklopfte. Beim Befüllen mit Feinschnitttabak, welchen er immer bei sich hatte und beim langsamen und genüsslichen Anzünden, überlegte er sich, was er mir erzählen wollte.
„Zuerst einmal zu den Weiden, Manfred. Als ich im ersten Weltkrieg an der französischen Front kämpfen musste, sah ich in der Rheinebene zum ersten Mal diese großen Schälweidenfelder, welche oft einige Hektar groß waren. Es handelte sich dabei um spezielle Sorten oder Züchtungen, die in einem Jahr besonders lange Ruten trieben und deshalb sich auch so gut zum Körbe flechten eigneten. Als ich im Frühjahr Fronturlaub bekam, schnitt ich einige solcher Weidenruten ca. 20-30 cm lang ab und pflanzte sie daheim auf unserer Wiese am Bachrand ein. Die kräftigen Weidenstöcke entlang der Schwabach auf unserer Wiese stammen alle von den paar Ruten von damals ab. Aber das habe ich eigentlich noch niemandem erzählt. Ich weiß ja auch gar nicht, ob das verboten gewesen wäre und heute fragt sowieso niemand mehr danach. Übrigens, hast du heute genügend Zeit mitgebracht?“ Das fragte mich Opa, weil er mir gestern eine längere Geschichte versprochen hatte. „Meine Hausaufgaben habe ich alle schon fertig und du kannst dir ruhig Zeit lassen, Opa.“ Jetzt kam wieder diese ganze Zeremonie mit seiner Tabakspfeife. Ausklopfen, befüllen und anzünden, das dauerte alles seine Zeit. Erst als der Tabak in der Pfeife richtig klimmte und sich mit dem Rauch ein besonderer Tabaksduft in der Kuhstallecke ausbreitete, begann Opa mit seiner Geschichte. „Also pass auf, Manfred, diese Geschichte, die ich dir heute erzähle, ist eine Geschichte nicht von mir, sondern von einem älteren Kriegskameraden von mir und ist jetzt schon über 90 Jahre alt. Es handelt sich also um eine Kriegsgeschichte von meinem Kriegskameraden, wie ich bereits schon sagte. Irgendwie fällt mir diese Geschichte immer in der Adventszeit wieder ein. Mein alter Freund musste als Soldat damals 1870 im deutsch-französischen Krieg gegen die Franzosen kämpfen. Nach monatelangen, schweren Gefechten mit großen Verlusten auf beiden Seiten, vereinbarten die großen Kriegsherren und Generäle für den heiligen Abend und den ersten Weihnachtsfeiertag einen Waffenstillstand. Es war ja damals schon so wie es auch später im ersten Weltkrieg und beim Hitler war, schuld sind immer die obersten Staatsherren, nur weil sie sich vor lauter Machtbesessenheit mit ihrem Gegnern nicht einigen können, muss der kleine Mann wie unsereiner, den Kopf hinhalten, obwohl von vorne herein feststeht, dass nie etwas Gutes dabei heraus kommen kann. Mit großen Hetz- und Propaganda Kampagnen, wurden damals wie auch später, ganze Völker aufeinander gehetzt. Am einfachsten gelingt das, wenn die Menschen auch noch verschiedene Sprachen sprechen. Würden die Franzosen und wir die gleiche Sprache haben, dann wäre es bestimmt nicht dreimal zum Krieg gekommen, davon bin ich überzeugt. Die obersten Generäle und Heeresführer, welche geschützt in ihren Bunkern, weit genug vom Schlachtfeld entfernt, ihre strategischen Planspielchen am Schreibtisch oder auf der Landkarte geschickt oder vielleicht auch saudumm ausgeklügelt haben, sind doch immer nur auf ihren Vorteil und ihren Machtanspruch aus. Wenn dem nicht so wäre, würden sie doch viel mehr miteinander verhandeln und reden. Sicherlich muss jedes Volk in der Lage sein, sich verteidigen zu können und braucht deshalb auch Soldaten und Militär. Dabei sollte man aber auf keinen Fall vergessen, dass es sich hier um Menschen mit einem eigenen Leben und auch eigenem Schicksal handelt. Jeder Stoß ein Franzos, mit solchen Parolen versuchte man damals, die Kampfmoral zu steigern, oder besser gesagt, uns für dumm zu verkaufen. Aber nun zurück zu meiner eigentlichen Geschichte, Manfred. Der damals ausgehandelte Waffenstillstand für den 24. und 25. Dezember, brachte tatsächlich alle Kampfhandlungen am Nachmittag des heiligen Abends zum Erliegen. Alle Soldaten zogen sich zurück in ihre Schützengräben und die gesamte Front kam zur Ruhe. Kein Kanonenlärm, kein Schuss und kein Geschrei waren mehr zu hören. Die Bajonetten und Schwerter ruhten seit langer Zeit endlich einmal. Du musst wissen, Manfred, Krieg das bedeutet, du musst deinen Feind töten. Aber du selbst kannst auch zu jeder Zeit getötet werden. Ein menschenverachtender Mechanismus. Ganz leise hörten damals mein alter Kamerad und die anderen Soldaten auf der französischen Seite weihnachtlichen Gesang, der mit der Zeit immer lauter und deutlicher wurde. Sie warteten, bis die Franzosen alle drei Verse vom oh, du fröhliche, zu Ende gesungen hatten, wie an der Melodie leicht zu erkennen war. Dann stimmten die deutschen Soldaten dieses Weihnachtslied an und sangen ebenfalls alle drei Verse und dann geschah das Unglaubliche an diesem Weihnachtsabend: Französische und deutsche Soldaten sangen gemeinsam, ein jeder in seiner Sprache, oh, du fröhliche, oh, du selige, Gnaden bringende Weihnachtszeit. Jeder Soldat, egal ob er nun von niedrigem Stand oder etwas höherem Rang war, hatte begriffen, dass sich hier Christen und zwar auf beiden Seiten gegenüber standen. Der gemeinsame Gesang war so ergreifend und feierlich und so geschah das eigentlich Unmögliche in einem Krieg. Deutsche und französische Soldaten krochen aus ihren Schützengräben, welche teilweise nur 50-100 Meter von einander entfernt waren, heraus, gingen aufeinander zu und umarmten sich. Wer hier dabei war, der hatte begriffen, was Weihnachten bedeuten kann und was es heißt, du sollst deine Feinde lieben. An diesem heiligen Abend erklangen noch einige von französischen und deutschen Soldaten ganz feierlich gesungene Weihnachtslieder in die dunkle und stille Nacht hinaus.

 Ich selber musste zweimal im ersten und im zweiten Weltkrieg gegen die Franzosen kämpfen. Öfters einmal dachte ich an diese Geschichte von meinem Kameraden. Hoffentlich bleibt dir so ein sinnloses Gemetzel auf einem Schlachtfeld erspart, Manfred. Einmal müssen die Menschen doch gescheiter werden.“

Ich saß immer noch auf dem Melkschemel und überlegte nachdenklich, was ich Opa auf diese Geschichte antworten sollte, war aber so mit mir selbst beschäftigt, dass ich nichts dazu sagen konnte. Erst nachdem wir längere Zeit wortlos bei einander saßen, hatte ich wieder eine Frage.

„Du, Opa, dieses alte Schwert, welches vorne in der Bulldoggarage in der Ecke lehnt, stammt das noch vom Krieg, oder wo hast du das eigentlich her?“ „Du meinst das Schwert mit dem ich im Sommer die Schnüre für unsere Burleybandaliere auf die jeweilige Länge abschneide, ist das richtig?“ „Ja, genau,“ antwortete ich. Die roten Schnüre zum Burleyblätter trocknen mussten zum Teil auf 90 oder auf 120 cm Länge abgeschnitten werden. Dazu hatte Opa zwei große Nägel im Abstand von 45 cm und einen dritten Nagel im Abstand von 60 cm auf ein dickes Brett genagelt, das in der Bulldoggarage in Arbeitshöhe an die Wand geschraubt war. Dort wickelte Opa bei Bedarf ca. hundert Mal um die jeweils benötigte Länge die rote Schnur. Mit einer kurzen, dicken Schnur bündelte er die hundert Wicklungen zu einem festen Pack zusammen. Mit dem großen Schwert, welches mit einem Sensenwetzstein immer besonders scharf geschliffen war, durchsäbelte er direkt neben der Verknüpfung alle Tabakschnüre. 

„Hat dieses Schwert im Krieg Menschen getötet, Opa?“ Bei dieser Frage legte Opa die ganze Arbeit beiseite, nahm seine Tabakspfeife aus dem Mund und klopfte diese ganz behutsam an einem Stuhlbein aus. Mit dieser Angewohnheit verschaffte sich Opa die nötige Zeit, eine Antwort für mich zu finden. „Ein Schwert ist nur ein Werkzeug und wird immer nur das machen, wozu es eingesetzt wird. Dieses Schwert stammt noch vom ersten Weltkrieg und wird jetzt schon seit etwa 40 Jahren ganz sinnvoll zum Tabakschnüre abschneiden verwendet. Es ist also nicht besser, aber auch nicht schlechter, als z.B. ein Messer. Wenn ich deine Frage richtig verstanden habe, dann machst du dir Sorgen, ob nicht noch Blut an dem Schwert hängt. Wie ich ja bereits schon gesagt habe, das Schwert ist doch nur ein Werkzeug. Man könnte sogar noch weiter gehen, der Soldat, welcher dieses Schwert führt, ist ebenfalls nur ein Werkzeug, weil er nur seine Befehle ausführen muss, egal auf welcher Seite dieser Soldat steht. Man muss also vorsichtig sein und darf nicht voreilig jemanden oder auch nur irgendwelche Gegenstände ungerecht verurteilen. Wenn man es schafft als Soldat unversehrt und gesund aus einem Krieg nach Hause zu kommen, dann ist es immer nur der Gnade unseres Herrgottes zu verdanken, da bin ich mir ganz sicher.“ 

Mit seiner ruhigen und zurückhaltenden Art hatte Opa immer einen guten Draht zu uns Kindern. Geschickt und geübt verband und verknüpfte er Rute für Rute an dem neu entstehenden Weidenkorb. Beständig und mit einer Ruhe, die wir nur von Opa her kannten, entstanden schon fast kleine Kunstwerke nur aus Weidenruten. Seine Tabakspfeife, die ständig für Rauch- und Tabakgeschmack sorgte, kam dabei nie zum Erlöschen und war im ganzen Arbeitsablauf integriert. Der Satz, wenn wir alle dieselbe Sprache sprechen würden, wäre es nicht dreimal zum Krieg mit den Franzosen gekommen, blieb im Unterbewusstsein bei mir haften.

Einige Tage später erzählte mir Opa eine weitere Kriegsgeschichte, die ich ebenfalls immer in Erinnerung behielt. 

Mein Opa musste im ersten und zweiten Weltkrieg an der französischen Front kämpfen. Dass er dabei jedes Mal heil, gesund und ohne größere Verletzungen oder bleibende Schäden heimkehren durfte, grenzt schon fast an ein Wunder, sagte er immer. Als Beispiel dafür erzählte er mir die folgende Geschichte:

Die Truppe, in der Opa diente, wurde zu einem Fronteinsatz abkommandiert und war abmarschbereit Mein Opa war 1,80 m groß und musste wegen seiner Größe in den vorderen Reihen marschieren. Genau zu diesem Zeitpunkt traf die Feldpost ein und wurde auch gleich noch verteilt. Sämtliche Namen, welche Post erhalten hatten, wurden aufgerufen und konnten sich ihre Post schnell noch abholen. Als letztes wurde der Name Winkler Johann aufgerufen. Mein Opa musste von ganz vorne zurücklaufen und seine Post abholen. In der Zwischenzeit wurde der Befehl zum Abmarsch erteilt. Nun musste er sich noch mehr beeilen und rannte, um sich wieder in seine Reihe einzuordnen. Als dies der Kommandant der Truppe sah, sagte er: Winkler, gleich hinten eingliedern. Nach etwa zwanzig Minuten Marsch passierte es dann. Eine feindliche Granate schlug in den vordersten Reihen, wo normalerweise mein Opa seinen Platz hatte, ein und riss viele seiner Kameraden mit in den Tod. Opa stand das Wasser in den Augen und ich wusste auch nicht mehr, was ich dazu sagen sollte. So herrschte für längere Zeit Ruhe. Erst als Opa wieder weiter an seinem Weidenkorb arbeitete, sagte er zu mir, dass man sich so viel Glück eigentlich gar nicht verdienen kann und sich im Grunde genommen nur für die geschenkte Gnade bedanken muss. Erst nach Jahren und auch nach Jahrzehnten, musste ich öfter an diese Geschichte denken, besonders dann, wenn wir am Volkstrauertag vor dem Kriegerdenkmal an die gefallenen Soldaten gedachten. Zum Glück hat sich bis heute sehr viel in Europa positiv verändert und viele Menschen sprechen zwei oder manchmal sogar drei Sprachen. Denn nur mit Verständigung lassen sich Konflikte vermeiden.